„Die doppelte Authentifizierung in Chanels Beauté Boutique: Vinylschallplatten, die Warenwelt und das Selbst in der Metamoderne“
Ein Beitrag von Prof. Dr. Holger Lund (DHBW Ravensburg) und Prof. Dr. Oliver Zöllner (HdM Stuttgart) für die Workshop-Tagung “Zur Authentizität und Inauthentizität von (medialen) Artefakten. Ein interdisziplinärer Dialog in zwei Akten, Workshops/Sammelband”, 29./30. Oktober 2020, online, veranstaltet von Dr. Amrei Bahr (Technikphilosophie, Universität Düsseldorf), Dr. Gerrit Fröhlich (Mediensoziologie, Universität Trier).

Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung ist seit etwa Mitte der 2000er -Jahre die analoge Vinylschallplatte in einem robusten Nischenmarkt zu neuer Popularität gelangt. Der gesellschaftliche Aspekt eines solchen partiellen Rückwärtsblicks in heutigen politisch und technologisch unsicheren Umbruchszeiten ist dabei keineswegs außer Acht zu lassen. Die neue Beliebtheit der analogen Schallplatte erscheint als ein Kristallisationspunkt für einen umfassenden, teils paradoxen gesellschaftlichen Diskurs über Modernisierungsprozesse, insbesondere über den Metaprozess der Digitalisierung (van den Akker & Vermeulen 2017). Die Metamoderne wird im Falle des Materialobjekts Vinylschallplatte umkodiert und neu interpretiert.
Als „Totem“ verweist sie auf Lebensstile, Gruppenzugehörigkeiten, Expertise und die Aufladung von spezifischen Orten mit bestimmten Bedeutungen (Bartmanski & Woodward 2015, S. 138). Als ein „geliebtes Objekt“ kann die Schallplatte der Identitätsbildung und Authentifizierung von Individuen, Gruppen und kulturellen Szenen dienen (vgl. Habermas 1999, S. 177). Längst wird Vinyl auch außerhalb von Plattenläden und Clubs als Zeichen von Coolness und Hipness verwendet, etwa in der Werbung oder als Dekorationsobjekt für die Präsentation gänzlich unmusikalischer Waren. Genau hier möchten wir ansetzen.

Unser Fallbeispiel geht von einem empirischen Fall aus: dem der Chanel Beauté Boutique, der Niederlassung des Mode- und Kosmetikunternehmens in Berlin-Mitte im Sommer 2020. Hier dienten verschiedene, eigens für die dekorative Ladengestaltung hergestellte Vinylplatten sowie zugehörige Plattenhüllen mit Chanel-bezogenen und zugleich popmusikhistorisch codierten Claims als Anziehungsobjekte für ein spezifisches hippes, urbanes Zielpublikum. Das Ladenlokal „verkleidete“ sich quasi als Plattenladen, und zwar so gut, dass es auch mit einem solchen verwechselt worden ist. Es offerierte aber weiterhin ausschließlich Kosmetikartikel und Accessoires, keine der Vinylplatten war käuflich erwerblich, obgleich eine starke Nachfrage danach zu verzeichnen gewesen ist. Die ausgestellten Vinylplatten und ihre Hüllen waren von den üblichen Inhalten dieses Medienbündels (Musik plus Metatexte) entkoppelt und fungierten lediglich als ikonische, totemistische Zeichen. Die Deko-Schallplatten sind hier als eine Art Semi-Fake zu identifizieren: zwar real vorhanden, aber doch ohne den üblichen Gebrauchswert. Auf den Platten befindet sich formelhafte Rockmusik, sie dürfen aber aus lizenzrechtlichen Gründen nicht abgespielt bzw. verkauft werden. Die Chanel Boutique, in deren Kontext diese Semi-Fakes für Marketingzwecke zum Einsatz kommen, erscheint also als eine Art Simulation, mit den bloßen Zeichen der Realität, aber unter Umgehung der Realität (vgl. Baudrillard 1978, S. 9). Verwirrenderweise wurde das Konzept des Plattenladens noch weitergehend simuliert: Wie in solchen Läden üblich, gab es eine Hörstation mit Turntables, Mixer und Headphones sowie einer abspielbaren, eigens von Chanel produzierten Text- und Musikschallplatte mit clubbigem Elektro-Sound, die gleichsam als Audioflyer eine Party für die Einführung des neuen Lippenstiftes Flash bewarb. Mit Coco Records hat Chanel im Übrigen auch ein entsprechendes Semi-Fake-Plattenlabel kreiert, das tote Musik veröffentlicht: nicht zu hören, nicht zu erwerben.

Das Display- und Store-Design der Chanel Boutique liefert eine bemerkenswerte Grenzsituation in Sachen Authentizität. Die Marker für einen authentischen Schallplattenladen sind so ausreichend, gut und vielfältig gesetzt worden, die Camouflage war so erfolgreich, dass das Konzept einerseits nicht Chanel-, sondern Vinylplatten-Kunden ansprach, was zu Konfusion im Laden führte, und andererseits eine vinylaffine und finanzstarke Chanel-Kundschaft zu (vergeblichen) Bietergefechten um die unverkäuflichen Platten und ihre Hüllen anfachte.

Chanels Display- und Store-Design schreibt sich zum einen also geradezu mustergültig in die Bereicherungsökonomie und ihre Sammlerkultur (vgl. Boltanski & Esquerre 2018) ein und greift hierzu auf formelhafte Semi-Fakes zurück. Zum anderen ist das Display- und StoreDesign als Semi-Fake ein Doppelwesen, das sich den Authentizitätswert der analogen Vinylkultur für die Bewerbung eines Lippenstiftes und anderer Accessoires aneignet, der seinerseits genau der Herstellung von Authentizität dient: nämlich echter roter Lippen. Diese komplexen Verhältnisse von Realitätskonstruktionen möchten wir an diesem empirischen Beispiel genauer in den Blick nehmen (vgl. Knaller 2008).

Wir wollen dabei auch auf die Weiterführung des Display- und Store-Designkonzepts in asiatischen Städten blicken, in denen das Schallplattenladenkonzept – anders als in Berlin – lediglich als Entrée für eine dahinter befindliche Semi-Fake Pop-Up-Clubsituation im 1980er Retro-Stil dient. In dieser Clubsituation werden wiederum mit Hilfe von zur Schau gestellten Schallplatten und ihren Hüllen, Juke-Box, Drum-Set und Live-Stage sowie DJ-Booth, aber in seltsamer Entkopplung von Musik, vor allem Kosmetika und das Chanel-Logo präsentiert.

Das „geliebte Objekt“ Vinylschallplatte erfährt bei Chanel eine Entleerung, indem es nicht mehr verwendbar ist, und wird zugleich ins Korporeale überführt, indem es Materialien zur Körpermodifikation (Make-up) mit Bedeutungen ausstattet und bewirbt. In dieser massiven, aufdringlichen, überdrehten Präsenz der Zeichen und Formen erscheint der Chanel-Laden als ein Beispiel für „Camp“ (Sontag 1966) und zugleich für das Selbst in der Metamoderne, in der sich die Sehnsucht nach Formen der Vergangenheit in einen post-digitalen Konsumismus der Gegenwart verwandelt – und dort vor allem spektakuläre Langeweile produziert.

Bemerkenswert bleibt aber auch, dass Chanel sich in den asiatischen Städten – anders als in Berlin – mit Coco Records tatsächlich eine Schallplatte mit dem Titel „Flash“ veröffentlichte. Coco Records tritt hier also wie ein reales Plattenlabel auf. Es scheint, dass der Authentizitätsdruck des Konzeptes, die pure Kraft der Simulation, schließlich zu einem sach- und fachfremdem realem Plattenlabel geführt hat, einer temporären Ausbuchtung des Firmenverständnisses, das mit anderen, echten Corporate Labels wie jenen von Coca-Cola, Texaco oder Nivea kontextualisiert werden sollte.

Der Fall des Display- und Store-Designs von Chanel in Berlin, das Pop-Up-Konzept in den asiatischen Städten sowie Coco Records als Label berühren, in verschiedenen Graden und Ausprägungen, Bruchstellen kapitalistischer Konsumrealitätskonstruktionen bzw. lassen dieselbe brüchig erscheinen. Authentizität und Inauthentizität werden am und um das mediale Artefakt Schallplatte auf eine ambige Weise inszeniert, die mit der Nicht-Hörbarkeit und Nicht-Käuflichkeit von Schallplatten einerseits Leerstellen und mit der realen Schallplatte eines realen Labels andererseits Überschuss erzeugt. Dieser Brüchigkeit wollen wir nachspüren, um ihre Bedeutung im Kontext von Firmen- und Konsumentenimage zu erfassen und mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu verbinden.