Der türkische Militärputsch von 1980 trennte die türkische Musikproduktion und -rezeption. Die anatolische Popmusik der 1960er und 1970er Jahre aus der Zeit vor dem Putsch wird seit zwei Jahrzehnten mit großem Erfolg weltweit wiederentdeckt und neu aufgelegt. Doch der türkische Pop nach dem Putsch (seit 1980) wurde von der türkischen wie globalen Musikwelt fast völlig vernachlässigt.

Was ist geschehen? Die türkische Musikproduktion ging nach dem Putsch weiter, aber das Medium verlagerte sich immer mehr von Vinyl auf Musikkassetten (MCs), die viel billiger in der Produktion und im Verkauf sind. Heute stehen wir vor einem „Ozean“ (Emir Özer) von Veröffentlichungen auf MCs, die hauptsächlich in den 1980er Jahren begannen und bis Anfang der 2000er Jahre massiv zunahmen. Die Produktion fand innerhalb und außerhalb der Türkei statt, darunter eine große Anzahl von Veröffentlichungen in Deutschland durch unabhängige türkische Musiklabels.

Bis heute scheint dieser Ozean an Veröffentlichungen gewisse Schwierigkeiten bei der Rezeption zu bereiten. Das Medium MC scheint nicht nur veraltet zu sein – obwohl es in bestimmten Kontexten eine robuste Renaissance als angesagtes Medium erlebt –, es scheint auch einen billigen Unterschichts-Touch zu haben sowie einen „quick and dirty“-Touch in Bezug auf die Produktions- und Konsummodi. Ein Touch, der gebildetere türkische Menschen daran hindert, sich mit der Musik der MCs auseinanderzusetzen, die in der Tat meist – aber nicht ausschließlich – arabesk oder arabesk-bezogen ist, und damit anatolische Binnenmigrant*innen anspricht. Und zu der fraglichen Zeit war die an Popmusik interessierte (urbane) Jugend viel mehr an westlichem Pop aus dem Ausland interessiert. Mit anderen Worten: „Niemand gibt einen Fliegendreck auf türkische MCs“ (Erbatur Çavuşoğlu).

Nachdem wir in den Ozean der Kassetten eingetaucht waren, fanden wir jedoch erstaunliche Beispiele für ein Nachleben des anatolischen Pop, quer durch alle Jahrzehnte und ihre Stile. Türkü und Aşık-Musik wurden mit Özgün Müzik, Arabesk-Pop, Disco-Boogie, Neo-Folk, Jazz, New Wave, Euro-Pop und Euro-House, Rap etc. kombiniert… eine unglaubliche Vielfalt und ein qualitativ hochwertiger Output. Für die Qualität sorgen auch einige der besten Musiker*innen aus der Zeit vor dem Putsch, die weiterhin Musik machen. Die wir Inseln im Ozean, die wir entdecken konnten, rechtfertigen die Rehabilitierung eines Mediums, der MC, weil diese Inseln einen Besuch wert sind.

Als Beweis dafür möchten wir unsere jüngste Wiederveröffentlichung eines Albums von Nyofu Tyson anbringen, die ursprünglich nur auf Kassette im Jahr 1988 veröffentlicht wurde und nun im Jahr 2023 auf Seismographic Records neu auf einer Vinylplatte herausgebracht wird.

Ein dänisch-libanesischer Afroamerikaner, der Türkisch gelernt hat und die Saz spielen kann? Der in der Blütezeit der anatolischen Pop-Szene, Anfang der 1970er Jahre, in Istanbul auftauchte? Und der so viel musikalische Anerkennung erhielt, dass der renommierte türkische Produzent Nazmi Şenel 1988 ein Soloalbum mit ihm herausbrachte, aufgenommen in Istanbul und mit Musikern wie dem türkischen Perkussionsstar Okay Temiz? Klingt ziemlich unwahrscheinlich. Dennoch wird anchmal höchst unwahrscheinliche Musik veröffentlicht. Das ist bei Tysons Album Türk Lokumu – Turkish Delite der Fall. Wie niemand zuvor verbindet und öffnet Tyson Anadolu Pop für eine ganze Reihe von Stilen: New Wave, Reggae, Hip Hop/Break, Latin, Disco Boogie… Er zeigt uns, wie vital, kompatibel und vielseitig man Anadolu Pop Ende der 1980er Jahre denken konnte.

Für unsere Präsentation möchten wir weitere Beispiele für (noch) verborgene MC-Schätze aufzeigen sowie dieses komplexe Medium, das in der nicht-westlichen, speziell türkisch-arabischen Welt viele verschiedene Funktionen erfüllte, näher beleuchten. Ist es ein klassistisches Medium oder nicht vielmehr ein Medium des Widerstands?

Gestaltung der Re-Release von "Türk Lokumu – Turkish Delite" auf Seismographic Records: Julia Raschke, Alumna Mediendesign.

Gestaltung der Re-Release von “Türk Lokumu – Turkish Delite” auf Seismographic Records: Julia Raschke.